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16.11.2018  00:00
Patriotismus zu Nationalismus
Vor einem Publikum der Staats- und Regierungschefs hat der französische Präsident die Begriffe Patriotismus und Nationalismus als Gegensätze dargestellt. Thierry Meyssan erinnert daran, dass diese Rhetorik einst den Willen widerspiegelte, die eroberten Völker ihrer Souveränität zu berauben, um ihnen ihr Recht auf Selbstbestimmung abzusprechen. Sie gilt von nun an für alle. [Quelle: voltairenet.org] JWD

 Von Thierry Meyssan  |  Voltaire Netzwerk | Damaskus (Syrien) | 9. Oktober 2018


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Quelle: voltairenet.org (verlinkt)

In einer Zeremonie zu Ehren der Veteranen des ersten Weltkriegs hat Präsident Emmanuel Macron den Patriotismus verherrlicht, zu dem sie sich bekannten und den Nationalismus verurteilt, zu dem sie sich ebenfalls bekannten. Dieser Konflikt hatte aber mit diesen zwei Ideologien nichts zu tun, denn er entstand aus imperialistischen Rivalitäten.

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nlässlich der Hundertjahrfeier des ersten Weltkrieges hat Präsident Emmanuel Macron eine Unterscheidung zwischen Patriotismus und Nationalismus hergestellt.

Der französische Präsident hat vor den 72 Staats- und Regierungschefs, vor seinem amerikanischen Amtskollegen, Donald Trump, und ein paar anderen, die sich als "Nationalisten" definieren, erklärt: "Patriotismus ist genau das Gegenteil von Nationalismus. Der Nationalismus ist sein Verrat."

Lassen wir einmal diese Eigentümlichkeit beiseite, die darin besteht, Verbündete im Namen des Friedens einzuladen, sie auf Tribünen ohne Ausgangs-Möglichkeit zu setzen und sie dann zu beleidigen.

Die Historiker sind sich einig, dass der Krieg von 1914-18 nicht durch den Nationalismus der Kämpfer, sondern durch die Rivalitäten zwischen den verschiedenen Imperien dieser Epoche verursacht wurde. Viele Überlebende sind sich bewusst geworden, von ihren Führern manipuliert worden zu sein, um deren Interessen zu dienen. Sie haben dann nicht das Konzept der Nation verurteilt, sondern die Art, wie die Propaganda ihn benutzt hat, um zum Krieg zu führen.

Der Patriotismus

Der Patriotismus bezieht sich auf das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Abstammungs-gemeinschaft. Wir sind die Kinder unserer Eltern, die selbst jene der ihren sind und so weiter. Wir fühlen uns als Schuldner unserer Vorfahren, deren Erbe wir verteidigen. Wenn wir unsere Vorfahren als jene Personen betrachten, die uns erzogen haben und nicht als unsere biologischen Eltern, ist dieses Konzept universal. Die Frage des Geschlechts hat auch keinen Platz mehr bei dieser Übertragung. Im Französischen unterscheidet man nicht zwischen Patrie (Vaterland) und Mère-Patrie (Mutterland).

Der Nationalismus

Der Nationalismus bezieht sich auf die Tatsache, eine gemeinsame Herkunft zu haben, die gleiche Mutter zu haben. Etymologisch stammt das Wort Nation von dem lateinischen nascere, geboren sein. Der Begriff unterstreicht die Existenz gemeinsamer Wesensarten. In den meisten alten Zivilisationen wurde der Begriff der Nation bzw. des Volkes verstanden als die in der Ausführung des gleichen Kultes sich ergebende Verbundenheit.

Im Mittelalter bildete der europäische Kontinent eine Gemeinschaft, die Christenheit. Mit der Trennung der Protestanten und Katholiken und den folgenden Kriegen, entstanden evangelische und katholische Nationen nach dem Prinzip „Wessen Region, dessen Religion“ (Cuius regio, eius religio). Dann trat nach und nach der Staat an die gemeinschaftsstiftende Stelle der Religion und ermöglichte die Religionsfreiheit innerhalb ein und derselben Nation.

Aber in einer, die religiöse Freiheit akzeptierenden Gesellschaft konnte die Berufung des Königs auf göttliches Recht nicht mehr aufrechterhalten werden. Im Verlauf der Französischen Revolution wurde dann die Vorstellung entwickelt, dass eine politische Autorität für ihre Legitimität der Zustimmung durch das Volk bedürfe.
 


Nation: "Juristische, aus allen Mitgliedern des Staates aufgebaute Person"

Dekret von König Louis XVI. vom 23. Juli 1789


"Das Prinzip jeder Souveränität liegt essenziell in der Nation. Keine Körperschaft, kein Individuum kann Autorität ausüben, die nicht ausdrücklich von ihr stammt." Artikel 3 der Erklärung der Rechte des Menschen und des Bürgers vom 26. August 1789

Article 3 de la Déclaration des Droits de l’homme et du citoyen du 26 août 1789.
 

Diese Definition der Nation ist heute fast universell gültig, mit Ausnahme des angelsächsischen politischen Denkens und der islamistischen Ideologie. Einer Nation anzugehören, bedeutet das gemeinsame Gesetz anzuwenden, das nur dadurch legitim ist, dass wir gemeinsam die gleiche Autorität anerkennen.

Die islamistische Ideologie (die der Bruderschaft der Muslimbrüder und der Dschihadisten) übernimmt jedoch wieder die mittelalterliche Definition: nur die Religion definiert die Nation. Es gibt also eine islamische Nation, aber keine Nation durch einen Staat.

Was die Angelsachsen betrifft, beziehen sie sich auf die vorrevolutionäre Definition. Für sie ist die Nation eine politisch organisierte Gruppe von Leuten mit einem Ursprung, einer Sprache und mit gemeinsamen Sitten.
 


“Nation: A large group of people having a common origin, language, and tradition and usu. constituting a political entity.”

Black’s Law Dictionary (2014 ed).
 

Diese ethnische Definition der Nation rechtfertigt die Fortsetzung der Kolonialpolitik des „teile und herrsche“ (divide et impera) so wie man es auf der Karte des "Erweiterten Nahen Osten" des US-Generalstabs sieht, die von Oberst Ralph Peters veröffentlicht und im Update von Robin Wright herausgegeben wurde.

Um es kurz zu sagen: wenn der Patriotismus auch universell ist, ist es der Nationalismus nicht zur Gänze, weil ihn die Angelsachsen und die Muslimbrüder bis heute nicht mit dem Rest der Menschheit teilen.

Die Kriege von jenen gesehen, die sie beschließen

Mit diesen Definitionen und wissend, dass die Soldaten des ersten Weltkriegs gleichzeitig patriotisch und nationalistisch sein wollten, kommen wir nun wieder auf den Satz von Herrn Macron zurück: "Patriotismus ist das genaue Gegenteil von Nationalismus. Nationalismus ist sein Verrat."

Im engeren Sinne des Wortes hat dieser Satz keinen Sinn, weil es keinen Widerspruch zwischen Patriotismus (verteidigen, was unsere Vorfahren uns übergeben haben) und Nationalismus (seine Führer wählen und sich dem gemeinsamen Gesetz beugen) gibt.

Es ist nicht so lange her, dass selbst die französische koloniale Partei den Patriotismus befürwortete und den Nationalismus zum Teil verurteilte. Es war gut, dass die Einwohner von Tonkin auf ihre Vorfahren stolz waren, aber nicht, dass sie sich als Vietnamesen behaupteten, und vor allem nicht als Franzosen. Den Nationalismus anderer zu verurteilen, war ein Weg, um sie von der Selbstbestimmung abzuhalten.

Als der Widerstandskämpfer und Diplomat Romain Gary Patriotismus und Nationalismus gegenüberstellte, war er sehr vorsichtig, sich von seinen Vorgängern zu unterscheiden und anzugeben, dass er den Nationalismus nicht in seinem üblichen Sinn verstand, sondern als Chauvinismus, als einen "Hass anderer".

Während seines Wahlkampfes erklärte Herr Macron, dass es keine französische Kultur gäbe, sondern Kultur in Frankreich. So verurteilte er also den Patriotismus. Im Verlauf seiner Amtszeit haben sich seine Ausführungen zu diesem Punkt geändert.

Vor ein paar Wochen hat der französische Präsident von dem "nationalistischen Aussatz" gesprochen. Wenn er heute den Nationalismus auch noch stärker verurteilt, ist es nicht im Namen seines angeblichen Gegenteils, des Patriotismus, sondern in Bezug auf eine Veränderung seines Ausmaßes.

Schon sein Vorgänger, François Mitterrand, behauptete im Europäischen Parlament, dass "Nationalismus Krieg bedeute!" Es ging für ihn darum, die dauernden innereuropäischen Kriege anzuprangern (im Laufe seiner Geschichte war Frankreich mit allen europäischen Staaten mit Ausnahme Dänemarks im Krieg) und eine gemeinsame europäische Regierung zu verherrlichen.

Dieses Projekt, das von Walter Hallstein, Sonderberater Adolf Hitlers und dann erster Präsident der Europäischen Kommission, verfasst worden war, ist nie in die Tat umgesetzt worden. Es scheint unmöglich, die europäischen Nationalismen zu überwinden, um sie auf größerem Maßstab durch einen neuen zu ersetzen.

Der Redenschreiber von Herrn Mitterrand und Mentor von Herrn Macron, Jacques Attali, würde eine "Weltregierung" vorziehen. Die Idee ist im Grunde die gleiche: indem wir uns mehr und mehr zusammenschließen, würden wir uns von den Kriegen befreien. Aber diesmal gilt sie nicht nur für Europäer, sondern für alle Menschen, einschließlich jener, die keinerlei Forderungen erhoben haben.

Es erweist sich, dass die Kriege schon vor den Nationen existiert haben und dass diese der einzige derzeitige Rahmen sind, der den Menschen erlaubt, ihr Schicksal zu bestimmen. Das Problem der Völker ist nicht das Maß, in dem sie ihre Souveränität ausüben, sondern die Macht, dies zu tun.

Das war genau die Hauptursache des Welt-Krieges. Man kann selbst zu diesem Krieg sagen, wie heute über den Korea-Krieg (sogar seit dem Waffenstillstand), oder über den im Irak oder auch in Syrien, dass der „Krieg ein Anti-Nationalismus ist“.

Autor: Thierry Meyssan  | Übersetzung: Horst Frohlich  |  Korrekturlesen : Werner Leuthäusser

 
Thierry Meyssan Thierry Meyssan: Politischer Berater, Präsident und Gründer des Réseau Voltaire und der Konferenz Axis for Peace. Er veröffentlicht Analysen über ausländische Politik in der arabischen, latein-amerikanischen und russischen Presse. Letztes, auf Französisch veröffentlichte Werk: Sous nos yeux - Du 11-Septembre à Donald Trump.

Dieser Beitrag ist unter Lizenz der Creative Commons (CC BY-NC-ND)
 

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