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18.04.2014 21:55
Der Lernwiderstand der Eliten in einer großen Krise
Seit den 1970er-Jahren haben die Eliten in den Industrieländern in zunehmendem Maß die neoliberale Weltanschauung übernommen. Als Professoren oder Journalisten analysieren und kommentieren sie die wirtschaftliche Entwicklung auf Basis der neoliberalen "Navigationskarte", als Politiker formulieren sie Programme und beschließen Gesetze, welche die zentralen Forderungen des Neoliberalismus Schritt für Schritt umsetzen. Gleichzeitig geht das Wirtschaftswachstum von Jahrzehnt zu Jahrzehnt zurück, Arbeitslosigkeit sowie prekäre Beschäftigung und die Staatsverschuldung steigen immer mehr. [Quelle: Stephan Schulmeister] JWD

Der Misserfolg der neoliberalen Therapien veranlasst die Eliten jedoch nicht, innezuhalten, Bilanz zu ziehen und nach neuen Wegen zu suchen. Stattdessen wird die Dosis der Therapien immer mehr erhöht. In diesem Essay versuche ich, einige Ursachen für diesen "Lernwiderstand" der Eliten aufzuzeigen.

Zunächst skizziere ich die wesentlichen Komponenten der neoliberalen Weltanschauung und der daraus abgeleiteten" Navigationskarte" für die Politik.

Im zweiten Abschnitt zeichne ich den Prozess der schrittweisen Verschlechterung der ökonomischen und sozialen Performance unter neoliberal-finanz-kapitalistischen Rahmenbedingungen nach.

Im dritten Abschnitt zeige ich, dass die Finanzkrise 2008 die Frucht einer "Spielanordnung" ist, in der die "Kernenergie" des Kapitalismus, das Profitstreben, sich zunehmend von Aktivitäten in der Realwirtschaft auf Spekulation in der Finanzwirtschaft verlagert. Die Vertiefung der Krise in Gestalt der Eurokrise und der Staatsschuldenkrise ist im Wesentlichen eine Folge einer Wirtschaftspolitik, die sich in Europa in ungleich höherem Maß an der neoliberalen Navigationskarte orientiert als in den USA oder in Japan.

Abschließend fasse ich wichtige Gründe dafür zusammen, dass die Eliten aus der Krise kaum etwas gelernt haben, sondern ihr Heil lieber in einem "more of the same" suchten und weiterhin suchen.

Das Weltbild des Neoliberalismus und seine wirtschaftspolitische Umsetzung
Dieses beruht auf der neoklassischen Wirtschaftstheorie. Demnach finden sich selbst überlassene Märkte die beste Lösung der ökonomischen Grundfragen, was wie für wen produziert werden soll.

Eingriffe von Staat und Politik stören die zu einem allgemeinen Gleichgewicht strebenden Marktprozesse (abgesehen von der Bereitstellung "reiner" öffentlicher Güter und der Berücksichtigung externer Effekte, wenn etwa Aktivitäten Kosten verursachen, für welche der Verursacher nicht bezahlen muss wie im Fall der Umweltverschlechterung).

Regulierungen der Finanzmärkte, die Systeme der sozialen Sicherheit (ins besondere das Arbeitslosengeld) und öffentliche Unternehmen verzerren die Preisbildung, setzen so falsche Anreize und verhindern die effizienteren Aktivitäten privater Akteure. Diese werden also durch einen wirtschaftspolitisch aktiven Staat "hinausgedrängt"("crowdingout").

Ziel der Wirtschaftspolitik muss daher eine Rückführung der Aktivitäten des Staates auf seine Kernaufgaben sein, der Rückgang der Staatsquote würde die Marktkräfte „entfesseln“ und so Effizienz und Dynamik der Gesamtwirtschaft steigern.

Die wichtigsten Beiträge zur politischen „Operationalisierung“ des neoliberalen Programms  wurden von der  „Schule  von Chicago“  geleistet und zwar bereits in den 1950er und 1960er-Jahre, als die neoliberalen Ökonomen noch Außenseiter waren.

In drei Problemfeldern haben sie die wirtschaftspolitische Navigationskarte der letzten 40 Jahre entscheidend, geprägt: Erstens im Hinblick auf die Deregulierung der Finanzmärkte, zweitens im Hinblick auf die Aufgabe einer aktiven Beschäftigungs- und damit Konjunkturpolitik und drittens im Hinblick auf die generelle Einschränkung des wirtschaftspolitischen Handlungsspielraums durch Regelbindungen. Die für die 1950er- und 1960er-Jahre typische Regulierung der Finanzmärkte im Allgemeinen und des Systems fester Wechselkurse im Besonderen attackierte Friedman 1953 mit der Behauptung, Finanzspekulation sei nützlich und nicht schädlich(1).

Dabei unterstellt er einfach, was zu belegen wäre, dass nämlich rationale Spekulanten auf den Finanzmärkten dominieren. Diese „Argumentation“ bildet das Fundament des Theorems von der Finanzmarkteffizienz(2), die Legitimationsgrundlage für die Entfesselung der Finanzmärkte seit den 1970er-Jahren und für die Flut an Finanzinnovationen in Gestalt der Derivate seit den 1980er-Jahren. Ihre Angriffe auf die Regulierung der Finanzmärkte konzentrierten die neoliberalen „masterminds“ in den1960er-Jahren auf das System von Bretton Woods.

Sie konnten dabei den fundamentalen Konstruktionsfehler dieses Systems fester Wechselkurse zu ihren Gunsten nutzen: die Doppelrolle des Dollars als nationale Währung der USA und als Weltwährung. Diese musste nämlich das System selbst langfristig unterminieren: Einerseits nützten die USA ihre Rolle als Leitwährungsland („worldbanker“) aus, etwa zu Finanzierung des Vietnam-Kriegs, und beschädigten so das Vertrauen in den Dollar als Leitwährung, andererseits verschlechterte sich die relative Position der US-Wirtschaft, weil der Dollar angesichts des Aufholprozesses der anderen Industrieländer hätte abwerten müssen, was aber durch das Währungssystem ausgeschlossen war.

Es ist daher kein Zufall, dass Präsident Nixon das ganze System kollabieren ließ, nachdem die US-Wirtschaft (und nur diese) 1970in eine Rezession geschlittert war. Mit den beiden drastischen Dollarentwertungen 1971/73 und 1976/78, den beiden nachfolgenden „Ölpreisschocks“ samt Rezessionen und der 1980 einsetzenden Hochzinspolitik wurde der Übergang von real- zu finanzkapitalistischen „Spielbedingungen“ vollzogen.

Der Weg in die gegenwärtige Krise begann also schon Anfang der 1970er-Jahre. Er wurde durch die Aufgabe des Ziels der Vollbeschäftigung geebnet, deren wichtigste wissenschaftliche Legitimation Friedman mit dem Konzept einer „natürlichen Arbeitslosenrate“ beisteuerte. (3) Kurzfristig könne eine expansive Wirtschaftspolitik zwar die Arbeitslosigkeit um den Preis einer höheren Inflation senken, langfristig sei das aber unmöglich, eine Vollbeschäftigungspolitik also sinnlos

Das Postulat einer „natürlichen“ Arbeitslosigkeit hat zwei Implikationen, welche dem neoliberalen Er kenntnisinteresse entsprechen. Erstens, eine makroökonomische Vollbeschäftigungspolitik ist sinnlos.

Zweitens, eine nachhaltige Senkung der Arbeitslosigkeit kann nur durch Lohnkürzungen so wie durch „Strukturreformen“ am Arbeitsmarkt erreicht werden wie etwa die Senkung des Arbeitslosengeldes (der „Anreize zu Arbeitslosigkeit“) oder Deregulierungen wie die Lockerung des Kündigungsschutzes.

Die dritte, von der „Chicago gang“ entwickelte Komponente der neoliberalen Navigationskarte besteht in der Bindung der Geld- und Fiskalpolitik an bestimmte Regeln, das Komplement zur Deregulierung der Märkte. In den USA hat die Notenbank in den 1980er-Jahren während der Präsidentschaft Reagans versucht, sich an monetaristischen Geldmengen regeln zu orientieren. Nicht zuletzt wegen der Unmöglichkeit, die Geldmenge in Zeiten gewaltiger Finanzinnovationen sinnvoll zu definieren, ist dieser Versuch gescheitert. Ende der 1980er-Jahre hat die US-Politik Regelbindungen verworfen und verfolgt seither in der Geld- und Fiskalpolitik einen primitiv-keynesianischen Kurs.

Genau zu diesem Zeitpunkt übernahm die Politik in der EU im Zuge der Vorbereitung auf die Währungsunion das Konzept der Regelbindung, in der Fiskalpolitik in Gestalt der Maastricht-Kriterien, aus gebaut zum Stabilitäts- und Wachstumspakt und jüngst in Form des Fiskalpakts verschärft, in der Geldpolitik in Gestalt des Statuts der Europäischen Zentralbank (EZB). Auf Basis der neoliberalen Navigationskarte wurden die Rahmenbedingungen des ökonomischen Systems in Etappen grundlegend verändert.

In den 1950er und 1960er-Jahren hatten regulierte Finanzmärkte eine aktive Wirtschaftspolitik und der Aus bau des Sozialstaats das Gewinnstreben auf die Real wirtschaft konzentriert, dies ermöglichte anhaltende Vollbeschäftigung und (damit) eine Grundstimmung von Sicherheit und Zuversicht. Mit dem Übergang zu finanzkapitalistischen Rahmenbedingungen begann der lange Weg in die gegenwärtige Krise. In polit-ökonomischer Hinsicht ist festzuhalten: Die neoliberale Ideologie legitimiert und begünstigt nicht die Interessen des Realkapitals und damit der Unternehmer an Profiterzielung in der Realwirtschaft – diese wird durch instabile Wechselkurse, Rohstoffpreise, Zinssätze und Aktienkurse ja massiv erschwert (zusätzlich auch durch unzureichende Erfüllung der öffentlichen Aufgaben wie Verbesserungen in der Infrastruktur, dem Bildungswesen oder den Systemen der sozialen Sicherheit).

Viel mehr legitimiert die neoliberale Ideologie die spezifischen Interessen des Finanzkapitals an selbst referenzieller Geldvermehrung („Lassen wir unser Geld arbeiten“). Mit ihren Losungen gegen Sozialstaat, Gewerkschaften und Linke haben die neoliberalen „master minds“ wie Friedman und Hayek bei Unternehmern und ihren Vertretern den Eindruck erweckt, der Neoliberalismus sei eine Ideologie in ihrem Interesse.

Dies gelang erst in den Jahren um 1970, weil sich die Unternehmer damals zunehmend in die Defensive gedrängt sahen. In einem bisher etwa 40 Jahre dauernden Prozess haben die Unternehmen ihr Profitstreben und (daher) ihre Aktivitäten von der Real- zur Finanzwirtschaft verlagert. Dies musste die ökonomische und soziale Performance des Gesamtsystems in Etappen immer mehr verschlechtern, die große Krise seit 2008 markiert die Endphase der Selbstzerstörung der finanzkapitalistischen Spielanordnung. [...]

Weiterlesen im Originaltext bei ' stephan.schulmeister.wifo.ac.at ' (PDF)..hier

*) Einflussreicher Proponent der Finanzmarkt-Spekulation und Verteidigereiner „natürlichen Arbeitslosenrate“ – der US-Ökonom und Nobelpreisträger (1976) Milton Friedman (1921-2006) [mehr Info bei Wikipedia ..hier]

Info: Stephan Schulmeister (* 26. August 1947) ist ein österreichischer Ökonom.
Der Sohn des Journalisten Otto Schulmeister und Bruder des Journalisten Paul Schulmeister ist seit 1972 wissenschaftlicher Mitarbeiter beim österreichischen Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) im Bereich „Mittelfristige Prognose, längerfristige Wirtschaftsentwicklung, Finanzmärkte und internationaler Handel“. Durch seine zahlreichen Publikationen, die unter anderem eine dezidierte Kritik am Neoliberalismus (den er als „Marktreligiosität“ bezeichnet)[1] und Alternativvorschläge wie einen gesamteuropäischen New Deal enthalten[2], ist er seit einiger Zeit einer der bekanntesten Ökonomen Österreichs. Seine Arbeitsgebiete sind Industrieökonomie, Innovation und internationaler Wettbewerb, Außenwirtschaft und internationale Wirtschaftsbeziehungen, Finanzmärkte und Unternehmensstrategien.

Schulmeister war in seiner Laufbahn Gastprofessor bzw. Visiting Scholar an mehreren internationalen Instituten, wie zum Beispiel der New York University und der University of New Hampshire. [..] 
[Quelle: Wikipedia ..hier]

 
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